Kluge Schafe

Gutes Gedächtnis für Gesichter

Schafe sind keineswegs so dumm, wie der Volksmund das nahelegt. Vielmehr verfügen sie über ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Gesichter. Das haben Verhaltensforscher am Babraham Institute in Cambridge/England herausgefunden. Sie trainierten mit einer Gruppe von Hausschafen (Ovis aries) eine Art Memory-Spiel. Den Tieren wurden Tafeln gezeigt, auf denen jeweils zwei Gesichter ihrer Artgenossen abgebildet waren. Eines der Gesichter tauchte auf mehreren der Tafeln auf und sollte immer wieder erkannt werden. Entschied sich das Schaf für dieses, bekam es Futter zur Belohnung. Nach durchschnittlich 30 Versuchen hatten die Schafe eine Treffsicherheit von 80 Prozent erreicht.

Die Tiere wurden sechs Wochen lang täglich im Erkennen von Gesichtern geschult. Anschließend absolvierten sie eine neue Versuchsreihe, wobei ihnen dieses Mal seitliche Kopfaufnahmen vorgelegt wurden. Auch diese konnten sie sofort voneinander unterscheiden. Nach einem Jahr ohne Übungen wurden die Tests an denselben Schafen wiederholt. Und noch immer konnten alle Tiere die 25 Gesichterpaare auseinanderhalten. Erst nach mehr als zwei Jahren ließ die Treffergenauigkeit nach. Das berichtet die Forschergruppe um Keith Kendrick in der heutigen Ausgabe der Zeitschrift "Nature" (Bd. 414, S. 165).

Menschen und Affen verfügen über ein spezielles Zentrum im Gehirn, das auf das Erkennen von Gesichtern spezialisiert ist. Beim Menschen ist eine kleine Sektion dieses Zentrums dafür verantwortlich, daß wir fremde Gesichter von bekannten unterscheiden können. Als die Forscher den Schafen Fotos der Herdenmitglieder zeigten, wurde ebenfalls eine spezielle Hirnregion aktiv. Diese ermöglicht offenbar das Wiedererkennen von Mitgliedern des engen sozialen Umfeldes. Auf Fotos unbekannter Schafe erfolgte keine Reaktion.

Mehr als fünfzig Gesichter von Artgenossen vermag sich ein Schaf zu merken, wie die Versuchsreihe ergab. Sogar die Gesichter von Menschen kann es in bekannt und fremd unterteilen. Überrascht waren die Verhaltensforscher auch über das Langzeitgedächtnis der Schafe. Denn selbst Gesichter von Artgenossen, die ein Jahr zuvor aus der Herde genommen worden waren, erkannten die meisten Tiere wieder. Die Gehirnaktivität unterschied sich nicht von derjenigen, die durch Bilder der gerade vorhandenen Herdenmitglieder hervorgerufen wurde.

Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.11.2001

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